„Ich konsumierte Valium wie Lutschbonbons.“

Vera* leidet seit Kindesbeinen am Restless-Legs-Syndrom RLS. Man verstand damals nicht, weshalb sie nicht stillsitzen konnte. Der Arzt verschrieb ihr Valium. Heute zeigt kein bekanntes Medikament mehr Wirkung.

Bearbeitung: Anja Eigenmann

„Müsste ich einen treffenden Namen für mich nennen, so wäre es Rumpelstilzchen. So fühle ich mich, wenn es mich richtig hart erwischt. Dann würde ich mich am liebsten in der Mitte zerreißen. – RLS liegt bei uns in der Familie. Schon meine Mutter war davon betroffen, ebenso wie meine beiden Brüder. Auch unser Sohn hat bereits Beschwerden.

Namenloser Bewegungsdrang

Ich wurde 1945 geboren. RLS wurde bei mir erstmals 1990 diagnostiziert, also im Alter von 45 Jahren. Damals begann man, das Problem zu thematisieren, und Patienten bekamen erstmals Parkinson-Medikamente in geringer Dosierung. Aber meine Leidensgeschichte ist schon viel älter: Bereits als Kleinkind war ich unruhig und lief ständig umher. Später fiel meine nächtliche Unruhe in Jugendlagern auf.

„Ich schaffte es kaum, anderen meine quälenden Bewegungsdrang zu erklären.“

Aber damals hatte das Restless-Legs-Syndrom noch keinen Namen, und es wurde nicht verstanden, weshalb ich nicht stillhalten konnte. Auch schaffte ich es kaum, anderen meinen quälenden Bewegungsdrang zu erklären. Mein Hausarzt verschrieb mir in den 60er-Jahren Valium, das ich wie Lutschbonbons konsumierte. Als in den Medien vor dem Medikament gewarnt wurde, ließ ich sofort die Finger davon.

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„Wenn es mich ganz hart erwischt, würde ich mich am liebsten in der Mitte zerreissen. Wie ein Rumpelstilzchen.“ (Grafik Axel Gallun, ©theater mimikri)

Ich half mir bei Beschwerden mit kalten Abwaschungen der Extremitäten, mit extremem Schlenkern und Verdrehen der Gliedmaßen, mit Hin- und Herlaufen und nahm homöopathische Mittel und Schüsslersalze ein. Aber nichts brachte langfristig Erfolg. Kino-, Theater-, Konzertbesuche und dergleichen blieben aufgrund meiner Bewegungsunruhe eine Qual, ebenso Vorträge während meinem Studium und der Ausbildung zur Lehrerin.

Fotografieren zur Tarnung

Damit mein Bewegungsdrang nicht allzu sehr auffiel, entwickelte ich im Verlauf der Jahre bestimmte Taktiken. So lenkte ich mich beispielsweise bei Einladungen ab, indem ich beim Tischdecken half, die Spülmaschine beschickte und dergleichen Arbeiten übernahm. Ausserdem legte ich mir schon recht früh eine Kamera zu, um mich fotografierend bewegen zu können.

Auf die Toilette zum Zappeln

Als Lehrerin, beim Unterricht, sass ich kaum am Pult. In Konferenzen und selbst geleiteten Sitzungen musste ich häufig die Toilette aufsuchen – nicht um ein bestimmtes Geschäft zu erledigen, sondern um mich ausgiebigst dem Zappeln von Beinen und Armen hinzugeben. Meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen erzählte ich nie etwas von meiner Krankheit.

Versuche mit alternativen Mitteln

Leider brachte auch die Medikation, die auf die RLS-Diagnose ab 1990 folgte, keine nachhaltige Linderung meines Leidens: Um das Jahr 2000 startete ich einen ersten Versuch mit Madopar, einem Parkinson-Medikament. Ich stoppte ihn aber, als Wesensveränderungen bei mir auftraten. In der Folge kehrte ich zu Alternativen zurück, wie Eincremen, Schüsslersalze und Homöopathie.

„Nach der Umstellung der Medikamente zeigten sich zuerst Erfolge: Ich konnte durchschlafen.“

2007 wurde ich in einer Klinik für Bewegungsstörungen auf eine Kombination von Wirkstoffen eingestellt: Einen Dopaminagonisten, also einen Wirkstoff, der bei Parkinson eingesetzt wird, plus Opioide gegen Schmerzen. Leider kam es immer wieder zu Augmentation, einer Verschlimmerung der Symptome, die gut bekannt ist im Zusammenhang mit RLS. Wenn dies auftrat, wurde ich umgestellt auf andere Dopaminagonisten und sogar Anti-Epileptika.

Verschlimmerung trotz hoch dosierter Medikamente

Ich begab mich ab und zu wieder in eine Klinik, und nach der Umstellung zeigten sich auch Erfolge: Ich konnte durchschlafen. Inzwischen wirken alle Medikamente, die man gegen diese Krankheit kennt, bei mir nicht mehr, und ich leide trotz hoch dosierter Medikamente an heftiger Augmentation.

„In ganz schlimmen Fällen boxe ich mit den Armen und trete mit den Beinen gegen die Wand, bis es schmerzt und mir die Tränen kommen.“

Allerdings bin ich inzwischen pensioniert und kann mein Leben einigermaßen RLS-kompatibel einrichten. Nachts gehe ich oft auf Wanderschaft durchs eigene Haus, erledige die Bügelwäsche, räume die Spülmaschine aus, zappe mich durchs TV-Programm. In ganz schlimmen Fällen boxe ich mit den Armen und trete mit den Beinen gegen die Wand, bis es schmerzt und mir die Tränen kommen. Irgendwann schleiche ich dann übermüdet ins Bett. Schlafphasen dauern zwei bis drei Stunden.

Spielen mit Enkeln ist nur begrenzt möglich

Tagsüber bin ich müde und kann dann manchmal etwa eine Stunde schlafen. Aktivitäten, die mit längerem Sitzen verbunden sind, sind nicht möglich. Oft geht auch Essen nur im Stehen. Spiele mit meinen geliebten Enkelkindern, Vorlesen, Puzzeln und Kuscheln mit ihnen ist nur sehr begrenzt möglich. Mein Mann und ich unternehmen hin und wieder Busreisen. Da dies mit langem Sitzen verbunden ist, kläre ich die Mitreisenden über meine Krankheit auf. Nach etwa 2 Stunden steige ich in der Regel hinunter vor die Bordtoilette, um ungestört zappeln zu können.

„Sähe mich ein Fremder ‚toben‘, würde er glauben, ich litte unter starkem Tourette-Syndrom“

Früher trank ich gerne mal ein Glas Wein oder Sekt. Das ist nicht mehr möglich wegen der starken Medikamente und weil Alkohol auch ohne diese Medikamente die Symptome verstärken würde. Obwohl vor Kaffeegenuss gewarnt wird, leiste ich mir täglich eine Tasse.

Momente tiefster Depression

Meistens bin ich ein sehr fröhlicher Mensch. Bei unerträglichen RLS-Beschwerden geht’s mir aber total schlecht. Sähe mich dann ein Fremder „toben“, würde er glauben, ich litte unter starkem Tourette-Syndrom. Es gibt häufig Momente tiefster Depression. Aber meist finde ich nach den „Anfällen“ meine positive Lebenseinstellung wieder.“

*Name geändert

6 Kommentare

  1. Yorik Köhler
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    Diese Krankheit, bzw das Leiden an den Folgeerscheinungen
    der starken Betäubungsmedikamente kann unerträglich werden.
    RLS, wenn man nicht selber aufpasst, kann ein direkter Weg in eine Betäubungsmittel Sucht werden.
    In karen Worten: Es kommt der Punkt an dem man zusätzlich zu den RLS Missempfindungen und Schmerzen einen kalten Entzug wie ein Junkie machen muss. Die Abhängigkeit und die Qual beim Entzug ist mit einem Heroinentzug vergleichbar. Während des Entzuges bekommen Heroinabhängige ebenfalls ein RLS obwohl sie nicht dran erkrankt sind.
    Das bedeutet das die Qual die dann ein RLS Kranker durchzustehen hat um ein mehrfaches schlimmer ist als ein ohnehin schon grausamer Opiatentzug weil sich die Symptome potenzieren.

    Gegen das RLS ist Targin (Oxicodon) als einziges Opioid zugelassen. Oxicodon ist mit das stärkste Opioid das es gibt. Es gibt RLS welches mit heftigen Schmerzen einher geht, da kann der Einsatz sinnvoll sein , die überwiegende Zahl an RLS Patienten leiden aber „nur“ unter Missempfindungen welche auch mit sanfteren Betäubungsmitteln gelindert werden können und bekommen trotzdem diese hochgradig und schnell abhängig machende Medikament.

    Nicht jeder der eine RLS Diagnose erhält wird von seinem Arzt oder zuständigen Gesellschaften über diese Gefahr aufgeklärt. Auch die Nebenwirkungen der Dopamine werden nicht im Klartext besprochen sondern bleiben abstrakt.
    Oft sind es die Dopamine welche die Missempfindungen erst unerträglich machen, die Verschlimmerung der Krankheit welche ebenso abstrakt als Augmentation bezeichnet wird, so als gehöre sie einfach zum Krankheitsbild dazu, ist die Eingangspforte in die Opioidsucht. Wo man vorher zwar gelitten hat aber noch damit leben konnte kann man es nach dieser medikamenten- gemachten Verschlimmerung nicht mehr. Diese Dopamine sind als Notfallmedikament sinnvoll, aber nicht als Dauermedikation und schon gar nicht mit Dosis-Steigerungen.

    Für mich ist es völlig unverständlich wie Ärzte die Dopamin -Präparate dauerhaft verschreiben können und noch weniger verstehe ich aus eigener Erfahrung die Leitlinien der deutschen RLS Gesellschaft.
    Eine Leitlinie welche auf direktem Weg in die Opiatsucht führen kann, sollte man hinterfragen.

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  2. corenakroll
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    Ja, Du hast vollkommen Recht… ich kann auch nur feststellen, dass mit dem Anstieg der Medikamente, egal welcher Klasse, auch die Krankheit mit der Zeit immer schlechter wurde, als vor der Medikamentenzeit….

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  3. Ulrike Polo
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    Stimmt leider nicht so ganz…mein RLS fing schleichend an und wurde über die Jahre auch ohne Medikamente schlimmer. Tagsüber sogar im stehen und dann noch die Arme dazu. Ich war 30 Jahre mit dieser Krankheit alleine und “ darf “ erst seit ca 9 Jahren Medikamente nehmen. Ohne würde ich es nicht mehr aushalten…

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    • Yorik Köhler
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      Ja, da hast du recht, das RLS wird meist mit der Zeit auch ohne Medikamente schlimmer,
      es ist nur ein Unterschied ob das langsam schleichend über viele Jahre geht oder innerhalb kürzester Zeit mit den Medikamenten. Manche können in der Anfangsphase noch gut ohne Medikamente leben,
      sogar Arbeiten gehen, nehmen sie dann die Medikamente sieht das 1-2 Jahre zB später anders aus.
      Viele bekommen schon die falschen Medikamente wenn es noch erträglich ist, ein Absetzen oder wenn sie nicht mehr wirken zeigen dann dass es untertäglich geworden ist.
      Das liegt zum Teil an den Medikamenten und zum Teil an der Gewöhnung. Der Körper gewöhnt sich bis zu einem gewissen Grad an die Missempfindungen. Die Lebensqualität ist aber auch ohne Medikamente kaputt. Nur, das Leid ist geringer bis zu einem gewissen Punkt wo das unbehandelte RLS trotz Gewöhnung unerträglich geworden ist. Ich meine zu viele nehmen die Medikamente zu früh,
      meist um ihre Arbeitsfähigkeit wieder her zu stellen. Grade die Domamine sind als Notfallmedimedikamente eine feine Sache, aber keines Falls dürfen diese regelmäßig genommen werden und genau das wird laut Leitlinien verordnet. Das! ist der Beginn der brutalen Verschlimmerung, das Wort Augmentation lehne ich ab, es ist abstrakt und wird daher nicht ernst genommen weil die Tragweite nicht in seiner Konsequenz verstanden wird.

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